Arbeits- und Gesundheitsschutz als Puzzle oder im Vergleich zu Flugzeugabstürzen: Sehr anschaulich vermittelten die Rednerinnen und Redner beim Deutschen Arbeitsschutzkongress, dass es bei der Reduzierung der Arbeitsunfälle nicht um Verbote geht, sondern um die Veränderung der Sicherheitskultur – und die muss in den Köpfen der Führungskräfte beginnen.
von Holger Toth
Haben Mitarbeiter Angst davor, Arbeitsunfälle zu melden? Denn die schöne Prämie für unfallfreie Zeiten könnte dann ja futsch sein, was auch bei den Kollegen nicht gut ankommt. Oder der Chef stellt Einzelne in Teamsitzungen an den Pranger. Angst ist in jedem Fall ein schlechter Ratgeber und verhindert sichere und gesunde Arbeitsweisen.
Eine offene Sicherheitskultur im Unternehmen ist stattdessen wichtig. Wenn sogar Beinaheunfälle gemeldet werden, können präventive Maßnahmen ergriffen und gefährliche Situationen verhindert werden. Genau das war ein Kernthema des Deutschen Arbeitsschutzkongresses, wie Stefan Ganzke erklärt.
Stefan Ganzke ist zusammen mit seiner Frau Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung „Die Wandelwerker“, die den Kongress in Wuppertal organisiert hatten. 300 Teilnehmer waren in die historische Stadthalle gekommen und bekamen neben Vorträgen auch Workshops und eine Messe geboten – und selbstverständlich die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich auszutauschen.
„Sicherheitskultur ist Teamarbeit“, lautete die zentrale Botschaft, die Anna Ganzke den Zuhörerinnen und Zuhörern mitgab. In ihrem Vortrag erklärte sie, warum die Entwicklung einer Sicherheitskultur im Unternehmen wie ein Puzzle funktioniert.
Viele kleine und bewusste Maßnahmen ergeben im Arbeitsschutz das Gesamtbild. Nur auf diese Weise lässt sich der Kreislauf durchbrechen, den Anna Ganzke so skizzierte: Es kommt zu einem Arbeitsunfall. Das betroffene Unternehmen analysiert die Situation, das Aufmerksamkeitslevel ist oben. Im Laufe der Zeit sinkt die Aufmerksamkeit, bis es irgendwann wieder zu einem Unfall kommt. Um die Zahl der Arbeitsunfälle nachhaltig zu senken, ist es aber notwendig, Präventionsmaßnahmen zu implementieren, wenn die Aufmerksamkeit nachzulassen droht.
Hoch hinaus ging es beim Vortrag von Peter Brandl. Der Buchautor und Pilot zeigte auf, was sich Unternehmen von der Luftfahrt abschauen können, um keine Bruchlandung zu erleiden. „Menschen machen Fehler und werden Fehler machen“, stellte er klar. Zeitdruck, Stress und Emotionalität seien Ursachen für ihre Entstehung. „Es ist dann nur noch eine Frage des Wann und lässt sich auf Teams übertragen.“
Fehler würden auch beim Fliegen passieren. Technische Fehler wie ein Triebwerkausfall zum Beispiel. Zur Beruhigung der Zuhörer fügte Brandl hinzu, dass Flugzeuge auch mit einem Triebwerk noch gut starten, fliegen und landen könnten. Aber: Dann müssen die Piloten richtig und besonnen handeln. „Bei einem Triebwerkschaden beim Start machen wir Piloten erst einmal… nichts“, erklärte Brandl. „Wir steigen auf eine bestimmte Mindestflughöhe – denn da gibt es weniger Hindernisse wie Hochhäuser oder Berge. Dann kümmern wir uns um das Problem.“ Er übertrug das Beispiel auf Unternehmen. Die würden bei einem Fehler, einem Arbeitsunfall etwa, meist keinen kühlen Kopf bewahren, sondern blinden Aktionismus betreiben. Beim Fliegen könne das fatale Folgen haben und in einem Absturz münden.
Die Fehlerkultur im Unternehmen sei häufig ein Problem, führte Peter Brandl aus: „Als Mitarbeiter habe ich gelernt: Wenn ich Fehler mache, bekomme ich auf die Mütze. Wenn wir als Unternehmen aber Fehler sanktionieren, werden sie vertuscht, weil kein Mensch gerne bestraft wird.“ Bei Fehlern die Schuldfrage zu stellen, sei nicht zielführend. Sein Plädoyer für eine gute Fehlerkultur: „Die Frage sollte lauten ‚Seit wann weißt du das?‘. Das Verschweigen von Fehlern muss schlimmer sein als der Fehler selbst.“
Andere Redner wählten ebenfalls anschauliche Beispiele aus ihren Erfahrungen oder gaben Einblicke in die Praxis in ihrem Unternehmen. Andreas Rämsch etwa ist nicht nur Werkleiter beim Kunststoffhersteller Egger, sondern auch Radsportfan. Die Helmtragequote sei in den vergangenen 20 Jahren von 5 auf 31 Prozent gestiegen, blickte er auf die Statistik. Die Gruppe der über 60-Jährigen liege mit 41 Prozent über dem Durchschnitt. Hauptgrund sei die Verbreitung von E-Bikes und das eigene Sicherheitsempfinden – und genau da sieht er die Überschneidung mit dem Arbeitsschutz. Rämschs Ziel: der Weg von der extrinsischen Motivation der Mitarbeiter zur intrinsischen Motivation. „Wertschätzende Kommunikation ist dafür der Hebel“, sagte der Werkleiter. „Mit einer gesunden Kultur des Lobens können Führungskräfte die Sicherheitskultur nachhaltig stärken.“ Kleine Aktionen wie Pokale für unfallfreie Tage oder Foodtruck-Aktionen auf dem Firmengelände stärken den Zusammenhalt der Teams, die Einbeziehung der Mitarbeiter in Workshops oder bei Befragungen stärken die Identifikation mit Arbeitsschutzmaßnahmen. Bei Egger zeitigte das Erfolge: Von 2021 bis 2024 ging die Zahl der Arbeitsunfälle von 26 auf 10 zurück. Geht die Entwicklung so weiter, soll es im Jahr 2028 gar keine mehr geben.
Manuela Noll zeigte exemplarisch, wie das Sicherheitsbewusstsein mit einfachen Methoden verbessert werden kann. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit war bei der Rational AG mit einem Projektteam daran beteiligt, Sicherheitskurzgespräche zu entwickeln: „Wir wollten an unsicheren Verhaltensweisen arbeiten. Führungskräfte sollten Werkzeuge an die Hand bekommen, die wenig Zeitaufwand bedeuten.“ Die Kurzgespräche haben einen festen Rahmen, finden einmal im Monat oder anlassbezogen statt und dauern maximal eine Viertelstunde. Die Führungskräfte bereiten sie thematisch vor und gehen dann mit ihren Mitarbeitern in den Dialog. Das Ziel: Maßnahmen für sicheres Arbeiten ableiten.
Wie man ein trockenes Thema spannend aufbereitet, machte Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich vor. In seinem Vortrag zu Kontrollpflichten von Führungskräften übersetzte er die juristische Fachsprache kurzweilig in allgemeinverständliche Handlungsempfehlungen – und zeigte auf, dass es mitunter schon ausreicht, in der Nähe seiner Mitarbeiter „herumzulungern“, um seiner Kontrollpflicht nachzukommen.
Inspiration konnten sich die Besucher des Arbeitsschutzkongresses nicht nur bei den Vorträgen holen. Erstmals war eine Messe integriert. 20 Unternehmen stellten ihre Produkte und Dienstleistungen vor.
Vier Workshops rundeten die Veranstaltung ab. Für jeweils einen konnten sich die Besucher entscheiden. Dabei ging es um Sicherheitsgespräche, die europäische Maschinenverordnung, mentale Gesundheit und verhaltensorientierte Maßnahmen im Arbeitsschutz.
Unter den 300 Besuchern des Arbeitsschutzkongresses waren eine Reihe von Unternehmern, aber vor allem auch viele Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifas). PRÄVENTION AKTUELL hat sich ein wenig umgehört.
Wir sind an einem Punkt, wo unsere Unfallzahlen stagnieren. Die Entwicklung der Sicherheitskultur ist also entscheidend. Bei den Vorträgen fand ich die Sicherheitskurzgespräche besonders interessant, weil man dadurch als Führungskraft die Kultur gezielt steuern kann.
Sebastian Kempf, Sifa bei der Schunk Group
Es waren spannende Themen und super Redner. Mein persönliches Highlight war der Pilot Peter Brandl. Man nimmt viel mit für die tägliche Arbeit, auch im Vertrieb.
Frank Bayer, Vertriebsmitarbeiter der DEKRA Akademie Wuppertal
Ich bin durch den Podcast der Wandelwerker auf den Arbeitsschutzkongress aufmerksam geworden. Auf die Speaker Peter Brandl und Thomas Wilrich habe ich mich am meisten gefreut. Ich nehme viele Kleinigkeiten mit, einzelne Konzepte zum Beispiel oder Ideen für Schulungen und Fortbildungen.
Julia Hoffmann, Sifa bei der Schwarz-Gruppe
Unser Anspruch ist es, in die Stufe III der Sicherheitskultur zu kommen – also weg vom Regelorientierten, hin zur intrinsischen Motivation der Mitarbeiter. Dafür gab es in den Vorträgen super Anregungen.
Patric Lodenkemper, Sifa bei Miele
Einen Tipp gibt Stefan Ganzke Unternehmen mit auf den Weg, die ihre Sicherheitskultur verbessern möchten. „Das Wichtigste ist der Mut, Dinge anders zu machen und im Unternehmen umzusetzen.“ Den Spirit und die Inspirationen aus dem Kongress mitzunehmen, könne dabei helfen, sagt der Wandelwerker. Das Fazit zieht Anna Ganzke im Video.