Mensch und Maschine arbeiten bei Atlas gemeinsam daran, hochwertige Sicherheitsschuhe herzustellen. Nun soll dem Dortmunder Unternehmen Künstliche Intelligenz (KI) dabei helfen, die Qualität noch weiter zu steigern.
von Holger Schmidt
Satte 450 verschiedene Modelle hat Atlas im Sortiment – da muss man erst einmal den Überblick behalten. Damit das funktioniert, braucht es gute Ordnung und Organisation. So warten in der Lagerhalle mehr als 500.000 Paar Schäfte auf ihren Einsatz – sortiert nach Modellen und Größen. Denn es muss schnell und reibungslos gehen, wenn die Produktion anrollt.
So viele Paar Sicherheitsschuhe stellt Atlas pro Jahr her
Bei der Produktion machen die Sicherheitsschuhe Bekanntschaft mit Menschen und Robotern. Drei Menschen und acht Roboter arbeiten an den Produktionsstraßen zusammen. Neun dieser sogenannten PU-Anlagen gibt es am Dortmunder Standort. PU steht für das Material Polyurethan, das der Hersteller von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) für seine Sohlen verwendet.
Ein Monitor liefert an der Produktionsstraße die Infos, welcher Schuh hergestellt werden soll. Lautet der Auftrag beispielsweise, das Modell „Flash 8205 XP“ der Schutzklasse 3 in Größe 43 zu produzieren, werden die dafür passenden Schäfte aus dem Lager geholt. Gabelstapler und „Ameisen“ wuseln dafür durch die Gänge und bringen die Schuhrohlinge dorthin, wo sie gebraucht werden.
Nun kann der Weg der Schäfte zum „Flash 8205 XP“ beginnen. Dazu drehen sie zwei Runden auf der Produktionsstraße und werden dabei schrittweise aufgebaut. Kurz zusammengefasst: Erst kommt die durchtritthemmende Sohle auf den Schaft – sofern es die Schutzklasse erfordert jedenfalls. Dann folgen Zwischen- und Laufsohle. Fertig.
Zu Beginn des Produktionsprozesses sind Menschen gefragt. Ein Mitarbeiter leistet die Schäfte ein; er zieht sie also über die Leisten. Im traditionellen Schusterhandwerk handelt es sich um Holzmodelle der Schuhform. Bei Atlas arbeiten die Beschäftigten mit Formen aus Kunststoff und Aluminium, die sich leicht handhaben und für verschiedene Größen austauschen lassen.
Sind die Schäfte auf den Leisten, fährt die Produktionsstraße an. Sensorgesteuert greift ein Roboter zielsicher in eines der Ablagefächer, in denen die durchtritthemmenden Sohlen nach Größen einsortiert sind. Mit einer erstaunlich grazilen, beinahe tänzerischen Bewegung hebt der Roboterarm die Sohle in die Luft, präpariert sie unter einer Klebepistole und drückt die Sohle anschließend passgenau auf den Schaft – es ist der einzige Prozess, bei dem Atlas während der Schuhherstellung Klebstoff verwendet.
Die Durchtritthemmung besteht aus dem textilen Hightech-Material namens XP, das ohne Metall auskommt. Es liegt in großen Mengen, ähnlich wie Teppichrollen, in einer anderen Halle in der Nähe einer Maschine. Material hinein, Schuhgröße einstellen und schon können die Sohlen ausgestanzt werden.
Für die Zwischen- und Laufsohlen stellt Atlas den Kunststoff Polyurethan selbst her. Tanklaster liefern dafür das flüssige Rohmaterial an: Polyol und Isocyanat. Das vermengt der PSA-Hersteller nach einer Hausrezeptur mit weiteren Zusatzstoffen zu einem Gemisch, aus dem die Sohlen werden. „Die Zwischensohle macht den Schuh aus“, erklärt Marketing Managerin Julia Prott. „Denn sie bestimmt den Härtegrad und die Flexibilität – also das gesamte Laufgefühl.“ Zudem trägt sie zur Langlebigkeit des Schuhs bei und sorgt für die Verbindung mit der Laufsohle. Die ist wichtig für die Dämpfung und das Abrollverhalten des Fußes sowie für den Grip.
An der Produktionsstraße wird das Polyurethan nun gebraucht. Ein Roboter hebt die Rohlinge unseres „Flash 8205 XP“ an, die nun mit den geklebten durchtritthemmenden Sohlen versehen sind. Es wirkt so, als würden einem viele Füße entgegengestreckt. Ein Mitarbeiter kontrolliert die Verarbeitung. Sind Durchtritthemmung und das zusätzlich stabilisierende Metallplättchen richtig angebracht? Falls nicht, muss nachjustiert werden, bevor es weitergeht.
Ist alles in Ordnung, heißt es für den Schuh: Ab in die Einspritzanlage! Hier wird das warme Polyurethan in eine Form für die Zwischen- und Laufsohle eingespritzt. „Dann wird das Ganze gepresst. Durch den Abkühlungsprozess haftet das Material am Schaft“, veranschaulicht Julia Prott das, was im Inneren der PU-Anlage passiert.
Anschließend kommt der Sicherheitsschuh besohlt und fast fertig aus der PU-Maschine. An den Seiten gibt es noch einen Überstand, wo das Kunststoffmaterial mit viel Druck zur Sohle gepresst wurde und übergetreten ist. Ein Roboter beschneidet diesen Produktionsüberschuss. „Diese Reste bereiten wir zu Granulat auf und führen sie wieder dem Produktionsprozess zu“, sagt Julia Prott. Sie werden später Teil der Laufsohle.
Nach dem Beschnitt wird der fertige Schuh „ausgeleistet“, ein Mitarbeiter nimmt unseren „Flash 8205 XP“ der Schutzklasse 3 in Größe 43 also vom Leisten.
An einer der neun PU-Anlagen testet Atlas derzeit den Einsatz von KI bei der optischen Qualitätskontrolle. „Snap Vision“ heißt das eingesetzte System, das vom Bochumer Technologieunternehmen Snap entwickelt wurde. „Es kombiniert fortschrittliche Bildverarbeitungstechnologie mit KI, um eine präzise Überprüfung von Produkten und Komponenten zu ermöglichen“, erklärt Snap-Vertriebsleiterin Sinah Dittmann.
Das System analysiert Oberflächen, Dimensionen, Farben, Bauteilkomponenten und andere wichtige Merkmale, um Defekte oder Abweichungen vom Referenzmuster zu identifizieren. „Unser System unterstützt unter anderem dabei, den Automatisierungsgrad zu erhöhen, die Produktqualität zu verbessern, Ausschuss zu reduzieren und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.“
Bei Atlas soll das System mithilfe von Kameras alle Sicherheitsschuhe erkennen und auseinanderhalten können – bei 450 verschiedenen Modellen sind das eine Menge Daten, die die KI lernen muss. In dem Fall visuelle Daten in Form von Fotos, mit denen Snap Vision „gefüttert“ wird. „Während des Trainings werden dem System eine Vielzahl von Beispielen für fehlerfreie und defekte Produkte gezeigt“, erklärt Sinah Dittmann.
Die Fehler werden manuell „gelabelt“: Der Mensch markiert und kategorisiert also in den Daten die Merkmale, die für die KI wichtig sind. „Basierend auf diesen gelabelten Beispielen lernt das System, Muster zu erkennen, die auf Defekte oder Abweichungen hinweisen. Durch diesen Lernprozess verbessert das System kontinuierlich seine Fähigkeit, Defekte zu identifizieren und die Qualität der Produkte zu überprüfen.“
Grundlage des Systems sind Algorithmen, die auf maschinellem Lernen basieren. „Daraus resultiert eine hohe Präzision bei der Erkennung von Defekten, die möglicherweise von menschlichen Inspektoren übersehen werden könnten“, versichert Sinah Dittmann. Zudem verarbeite es große Datenmengen in kürzester Zeit, was die optische Qualitätskontrolle und somit auch die Produktionsgeschwindigkeit erhöhe. Und: Das System wird im Gegensatz zu menschlichen Inspektoren nicht müde, arbeitet also durchgehend und gleichbleibend zuverlässig.
Letztlich soll das KI-System also die Sicherheit in den Produktionsprozessen erhöhen und die Effizienz steigern. „Wenn wir den Flash produzieren und der Runner ist eingeleistet, bekommen wir ein Problem“, gibt Julia Prott ein Beispiel. Nicht nur, dass der falsch produzierte Schuh unbrauchbar wäre – auch der Leisten oder im schlimmsten Fall die Anlage könnten beschädigt werden, wenn die falschen Sohlen in der PU-Maschine eingespritzt und angepresst würden. Snap Vision erkennt einen fehlerhaft bestückten Leisten und teilt der PU-Maschine mit, keine Arbeiten mehr daran vorzunehmen. Die Anlage stoppt oder kann den Leisten direkt an den Anfang der Produktionsstraße umleiten.
Die Qualitätskontrolle der Sicherheitsschuhe ist sehr wichtig. Denn sie sollen einerseits das Gewicht ihrer Träger und die täglichen Beanspruchungen in der jeweiligen Arbeitsumgebung aushalten. Andererseits müssen sie gemäß der Schutzklassen, für die sie konzipiert, produziert und zertifiziert wurden, Sicherheit bieten. Verarbeitungsfehler können die Gefahr von Verletzungen erhöhen, wenn die Sohle entgegen den Herstellerangaben nicht durchtrittsicher oder rutschhemmend ist. Die optische Kontrolle mithilfe von KI soll die Qualität der Produkte weiter erhöhen. Die menschliche Endkontrolle ersetzt die KI jedoch nicht gänzlich.
Auch die fertigen „Flash 8205 XP“-Modelle der Schutzklasse 3 in Größe 43 durchlaufen diesen Prozess. Während die Schuhe über ein Transportband rollen, nehmen Beschäftigte sie in Augenschein. Gibt es trotz aller Kontrollen und Überprüfungen noch kleine Verarbeitungsmängel oder „Schönheitsfehler“? Dann wird das entsprechende Paar aussortiert. In die anderen Schuhe ziehen die Mitarbeiter die Schnürsenkel und legen die Einlegesohlen ein. Entlang des Transportbands dienen ergonomische Stehhocker der Rückenentlastung.
Auch beim Verpacken achtet Atlas darauf, die Mitarbeiter zu entlasten. „Roboter nehmen ihnen Bückbewegungen ab“, erklärt Julia Prott. Zu Tausenden liegen zusammengefaltete Schuhkartons in der Halle, blaue und grüne. Nicht wahllos, auch das folgt einem System. Geordnet nach Schuhmodell und Schuhgröße. Ein großer Roboter greift sich mit Saugnäpfen einen Stapel und legt sie seinem kleinen „Kollegen“ hin. Dieser faltet den Karton auseinander, ein anderer Roboter macht später den Deckel drauf. Die Beschäftigten müssen in der Zwischenzeit nur noch die Sicherheitsschuhe hineinlegen.
Eingepackt in sein „Zuhause“ geht es für unseren „Flash 8205 XP“ nun weiter ins Versandlager. Auch hier: blaue und grüne Kartons, so weit das Auge reicht. 300.000 Paar sind auf Lager und ruckzuck versandfertig. Topseller wie die Gore-Tex-Modelle, Klassiker wie der Anatomic Bau, aber auch Neuheiten wie der Runner 75. Angelehnt an einen Sneaker handelt es sich dabei um einen Recycling-Sicherheitsschuh. Im Moment gibt es diese Schuhe für die Schutzklasse 1P (also mit Zehenschutzkappe, rutschhemmender und antistatischer Sohle sowie Durchtritthemmung. Eine Erweiterung für andere Schutzklassen ist aber in Planung.
Für den Runner 75 werden die Produktionsüberschüsse verwendet, die in der PU-Maschine anfallen. Das zerschredderte Material wird als Granulat der Polyurethan-Mischung für Zwischen- und Laufsohle beigemengt. 20 Prozent der Sohle besteht aus diesem Recyclingmaterial. Die Einlegesohle, die eine Partnerfirma aus den Produktionsresten der Schäfte herstellt, ist sogar zu 86 Prozent recycelt. Getoppt wird dieser Recyclinganteil mit 92 Prozent noch vom Obermaterial des Runner 75 – gewonnen aus alten PET-Flaschen.
Das PET-Recycling erfolgt in Brasilien. Dort hat Atlas im Jahr 2006 die Produktionsstätte für die Schäfte in Betrieb genommen. Vorteile: Die Gegend um Lajeado und Bom Retiro, nicht weit entfernt von der Hafenstadt Porto Alegre gelegen, ist europäisch geprägt, die Bevölkerung teilweise deutschsprachig. Die Zeitverschiebung beträgt nur vier Stunden, was bei gemeinsamen Projekten hilfreich ist. Die Arbeitsbedingungen würden über dem dortigen Standard liegen, versichert CEO Hendrik Schabsky. Es gebe beispielsweise eine Betriebskita und die Beschäftigten würden mit Bussen zur Arbeit gefahren.
Um das Thema Nachhaltigkeit kümmert sich Atlas in Brasilien ebenfalls. So befindet sich eine neue Produktionshalle sich im Bau, die mit einer Photovoltaikanlage ausgestattet sein wird – auch in Dortmund kann das Unternehmen seinen Energiebedarf für die Produktion größtenteils mit Solarenergie abdecken.
Außerdem unterhält Atlas in Brasilien eigene Rinderherden. Denn Leder ist aufgrund seiner Eigenschaften ein wichtiger Bestandteil von Sicherheitsschuhen, obwohl synthetische Materialien besser und inzwischen zu Alternativen geworden sind. „Leder wird häufig in Schutzklasse 3 eingesetzt“, erklärt Schabsky. „Es ist ein sehr robustes Material, das atmungsaktiv ist, aber gleichzeitig wasserabweisend ist.“
Allerdings gibt es hohe Anforderungen an das Leder – manche Stellen können aufgrund von Mängeln nicht für Sicherheitsschuhe verwendet werden. Ein Scansystem erkennt diese Stellen und schneidet sie heraus. Die Reste gehen an ein Projekt vor Ort, das daraus Düngemittel herstellt. Kreislaufwirtschaft. „Wenn wir hier in Dortmund den Kreis schließen, wollen wir das in Brasilien auch“, betont Schabsky. Der Geschäftsführer verweist auf eine Win-win-Situation. „Es ist uns bei Atlas wichtig, die Umwelt zu schützen und Ressourcen zu schonen. Wenn man dazu beitragen kann, indem man Abfälle minimiert oder den CO2-Ausstoß reduziert, ist das auch für unsere Produktion ein Vorteil.“